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Erzählungen

Neue Wege und…verschieden ist normal

Es ist Sommer. Die Sonne läßt in der Mittagshitze die Luft wie flirrend erscheinen. Obwohl erst Anfang Juli, ist das Gras trocken, ausgedörrt. Regen wäre gut.
Ralf erwacht. Für die Dauer des kurzen Mittagsschlafes hatte er alles vergessen. Er war wieder wie früher, konnte sich bewegen. Mit dem Erwachen kommt das Bewußtsein wieder: sein rechtes Bein wird steif bleiben – er wird sich nie wieder wie früher bewegen können. Vor seinem Unfall vor einem Jahr war er sportlich, immer vergnügt, überall dabei, ruhelos und lebenshungrig. Es stand ihm nirgendwo etwas im Weg. Dann das: ein steifes linkes Bein und noch immer, zwar in größeren Abständen, starke Kopfschmerzen. Insgesamt konnte er, ja sollte er zufrieden sein mit dem Erfolg der Behandlung. Hatte er sich inzwischen an seine neue Situation gewöhnt?
Im zurückliegenden Jahr war seine bisherige Welt zusammen gebrochen. Er lebte jetzt in einer neuen, veränderten Welt. Immer wieder faszinierte ihn die Erkenntnis, daß er viele Dinge heute ganz anders sah.
Was war mit ihm geschehen? Er, der überall, ob im Sportverein, im Betrieb an seinem Arbeitsplatz, gerne der erste war, im Mittelpunkt stand, sich engagierte, hart gegen sich und andere war, hatte sich wesentlich verändert.
Kurz nach dem Unfall durchlebte er eine tiefe Traurigkeit, die bis zum Frühjahr andauerte. Nichts konnte ihn aus seiner Niedergeschlagenheit herausholen. Er wollte seine Ruhe haben. Er wollte keine Freunde, keine Kollegen sehen. Er war neidisch auf sie: auf ihre Beweglichkeit, ihre Lebenskraft, ihren Humor. Sie besuchten ihn und versuchten ihn aufzuheitern, aber er gab sich reserviert, ja sogar unfreundlich, bis sie zuletzt alle wegblieben. Sogar seinen besten Freund Fred hatte er verscheucht. Fred, der sich durch eine unbegrenzte Vitalität, Kraft und einen nicht klein zu kriegenden bissigen Humor von jedem Durchschnittsbürger abhob – ihm konnte er nicht zuhören, seine Erzählungen gingen an ihm vorbei, berührten ihn nicht.
Auch Eva, seine Freundin, mit der er früher Ausflüge, Discobesuche und viele heiße Nächte erlebte, blieb schließlich weg. Er bedauerte es nicht. Sie gab ihm das Gefühl, für ihn auf viele Dinge verzichten zu müssen. Das ertrug er nicht mehr.
Endlich hatte er Ruhe. Er war allein mit sich. Mit seinen Gedanken, mit seinem Körper. Keine übertriebene Fürsorglichkeit nervte ihn. Kein Mitleiden von Freunden und Bekannten.
Er genoß das Alleinsein, las viel, hörte Radio. Er mußte sich nicht mehr verstellen, keinem vorspielen, daß es ihm gut ginge.
Hörte er alte Songs aus seiner Schulzeit im Radio, liefen ihm die Tränen über seine Wangen. Jugendträume kamen zurück. Vieles war in Erfüllung gegangen: nach dem Abitur das Studium zum Maschinenbauingenieur, Glück bei der späteren Wahl des Betriebes, schneller Aufstieg als Projektleiter, sein Sportwagen, sein Freundeskreis, jedes Jahr eine Urlaubsreise – es ging ihm gut.
Dann plötzlich STOPP. Der Unfall wirkte auf ihn wie eine Notbremse in seinem Lebensabschnitt. Völliger Stillstand - er war gezwungen, sich neu zu orientieren.
Er gestand sich ein, daß er vor seinem Unfall ein oberflächliches Leben führte – ohne echte Problemlösung. Über allem mußte ein Hauch von Tüchtigkeit, Spaß und Erfolg schweben. Er wollte stets anerkannt sein.
Jetzt las er viel. Kritische Romane, Zeitungsartikel, Sachbücher und Abhandlungen. Das alles verschlang er wie ein Hungriger. Selbst den Philosophen Kant oder auch neuzeitliche Philosophen las er mit Interesse. Wie ein wißbegieriger Schüler nahm er alles in sich auf.
Sein Nachholbedarf an Wissen erstaunte und freute ihn. Manchmal schien es ihm, als würde seine fehlende körperliche Wendigkeit durch seine neue, geistige Vitalität ausgeglichen. Er ruhte in sich selbst.
Und da war noch etwas. Er hatte eine junge Frau kennengelernt. Na ja, so jung war sie auch nicht mehr, sogar fünf Jahre älter als er. Mit ihrer Spontaneität, ihrem Witz hatte sie ihn beeindruckt.
In der Stadtbücherei traf er sie. Ralf war in sein Buch vertieft. Es las gerade von Adorno „Erziehung zur Mündigkeit“, als er durch ein kurzes Lachen und die Worte „im Register hätte ich es schon gefunden“ abgelenkt wurde. Da hockte Ulli, die Beine übereinandergeschlagen dicht am PC, daß der Betrachter Angst haben mußte, sie fiele in den Bildschirm hinein. Sie mußte sehr kurzsichtig sein. Ralf wunderte sich, daß diese doch eigentlich recht passable Frau, sich so oft in der Bücherei aufhielt. Sie war ihm bereits aufgefallen. Sicher war sie Studentin, die für ihr Studium spezielle Literatur suchte.
Ralf erhob sich und humpelte langsam zu Ulli hinüber. „Kann ich helfen?“ „Ach ja, gerne, vielleicht kommen wir gemeinsam schneller ans Ziel, “ gab sie zur Antwort.
Es stellte sich heraus, daß Ulli genau das Buch suchte, in dem Ralf gerade las.
Natürlich stellte er es ihr zur Verfügung – und es dauerte keine Stunde, da lasen sie gemeinsam besonders schwierige Passagen, stets mit recht persönlichen Kommentaren beiderseits.
Ulli war keine Studentin. Sie war durch eine Viruserkrankung, die sie schon lange in sich trug, die aber erst jetzt festgestellt wurde, von ihrem Arbeitgeber für längere Zeit freigestellt. Die Krankheit war noch nicht erforscht – keiner konnte ihr sagen, ob sie jemals geheilt werden würde.
Es war alles sehr plötzlich für sie gekommen. Von einem Tag auf den anderen Tag war sie nicht mehr gefragt. Ihre bisher geleistete Arbeit zählte nichts mehr. Es waren jetzt ihre Kollegen, die sich um ihre Aufgaben im Betrieb kümmerten. Sie fühlte sich abgelegt wie ein altes Dokument. Sie fühlte sich beiseite geschoben. Man behandelte sie wie eine Aussätzige – so empfand sie es.
Sie hatte jetzt so viel Zeit für sich, wie sie noch nie in ihrem Leben hatte. Es war völlig ungewohnt, eine völlig neue Situation ohne Perspektive, wie sie in den ersten sechs Wochen meinte.
An einem Nachmittag im April saß Ulli auf ihrem kleinen Balkon und blickte in den frischen, grünen Garten. Es hörte gerade mal wieder auf zu schauern. Jede dunkle Wolke regnete sich ab, um dann wieder die Sonne zu präsentieren. Richtiges Aprilwetter. Die Sonne gab, wenn sie sich am Himmel zeigte, schon viel wohlige Wärme ab. Sie genoß es. Sie blinzelte. Da war sie wieder: die Amsel mit einem gesunden und einem kranken Bein. Sie humpelte über den Rasen, ließ sich in der Mitte der Rasenfläche nieder und begann, sich ihr Gefieder zu putzen. Es wirkte etwas ungeschickt, wenn sie sich auf dem gesunden Bein bewegte, um den Seitenrand der Rasenfläche zu erreichen. Aber es gelang ihr von Tag zu Tag besser. Sie begann eine Geschicklichkeit zu entwickeln, die sie erstaunte. Sicher war sie durch einen Kampf mit einer der herumstreunenden Katzen zum Invaliden geworden. Die Amsel nahm ihr Schicksal an und machte das Beste daraus. Ulli hatte sich schon an sie gewöhnt – sie nannte sie „Humpi“, streute ihr Brot und Kuchenreste auf den Rasen unter ihrem Balkon und beobachtete sie mit Vergnügen. Aber die Krönung war ihr abendlicher Gesang. Sie saß in dem großen Mirabellen Baum, der mit einigen ausladenden Zweigen bis an ihren kleinen Balkon reichte. Ganz nah, sehr melodiös und fröhlich klang der Gesang der Amsel an Ulli`s Ohren.
So manches mal hatte dieser fröhliche Gesang sie schon aus ihrer eigenen Traurigkeit gerissen.
Eines Abends sagte sich Ulli, als sie gerade wieder dem Gesang lauschte: Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um Trübsal zu blasen, sondern um glücklich zu sein.
Und Glück fällt keinem in den Schoß – dafür muß man ganz persönlich etwas tun.
Sie erinnerte sich an ihre Jugendträume. Sie war immer eine Leseratte gewesen. Ihre Lieblingsbücher der Autorinnen Enid Blyton und Astrid Lindgren wurden von ihr in Windeseile gelesen. Unruhig wartete sie auf weitere Folgen der Romane. Auch an das Buch „Die rote Zora und ihre Bande“ erinnerte sie sich gerne. Damals stand für sie fest: Ich werde, wenn ich groß bin, auch Kinderbücher schreiben. Natürlich war alles anders gekommen. Nach Beendigung ihrer Schulzeit ging sie in eine Lehre, wollte Geld verdienen. Ihre Eltern konnten sie finanziell nicht unterstützen. Sie war stolz, daß sie so schnell ihre kleine Wohnung, ihr Auto, einen Bausparvertrag und lustige, unterhaltsame Freunde gefunden hatte – alles aus eigener Kraft durch ihr überdurchschnittliches Engagement im Betrieb. Sie bildete sich weiter, machte ihren Betriebswirt und wurde mit einer leitenden Position betraut, was für eine Frau schon recht anerkennenswert ist – auch heute noch – trotz Emanzipation.
Nachdem ihr die Krankheit, an der sie litt, bewußt geworden war und sie aus dem Berufsleben ausschied, hatte sie einige Wochen ihrer verlorenen Position nachgetrauert. Aber das war nun vorbei. Sie wollte die Tür aufstoßen, die sie vor sich sah. Sie wollte Kinderbücher schreiben. Als sie sich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte, kamen ihr viele Ideen – sie sprudelten nur so aus ihr heraus.
Um zu recherchieren ging sie oft in die Bücherei. Und da traf sie Ralf.
Es war für beide Liebe und Glück – nicht auf den ersten Blick – aber doch immer klarer, immer intensiver entwickelte sich im Laufe der Zeit eine positive Verbindung.
Die Stärke der Zärtlichkeit und Empfindsamkeit, die sie sich entgegenbrachten, so ein starkes Gefühl hatten beide noch nicht erlebt. Sie genossen es. Sie vertrauten sich. Sie konnten sich fallen lassen. Machtkämpfe um Belanglosigkeiten, wie in früheren Beziehungen, die gab es nicht. Solche Kämpfe kosteten nur unnötig Kraft und Zeit, das wußten sie. Sie waren sich klar darüber, daß eigentlich kein Mensch weiß wieviel Zeit und Kraft ihm noch in seinem Leben bleibt. Und sie empfanden ihr Leben als besonderes Geschenk. Sie lebten und liebten sich mit dem Gefühl, daß jeder Tag der letzte sein könnte. Sie waren dankbar, daß sie sich gefunden hatten.
Ihre Liebe machte sie stark für neue Wege. Ralf entschied, das Angebot der Geschäftsleitung anzunehmen und in die Abteilung Personalentwicklung zu wechseln. Er empfand es zuerst als persönliche Zurückstufung von der Abteilung Projektierung in die Personalentwicklung zu wechseln, denn er war gerne an seinem Arbeitsplatz, der so vielseitig und abwechslungsreich war. Plötzlich war ihm klar, daß er in der Personalentwicklung viel zur positiven Entwicklung der Mitarbeiter beitragen konnte und dadurch die Effizienz der Leistung der einzelnen Mitarbeiter steigern würde, und das Betriebsklima verbessern konnte. Seine Arbeit würde wesentlich zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Es war eine Herausforderung für ihn. Die Mitarbeiter nicht nur schulen, zur Weiterbildung motivieren, sondern ihnen helfen ein angenehmes Miteinander zu entwickeln. Er freute sich auf seinen ersten Arbeitstag, auf seine Kollegen.
Und Ulli? Sie hatte viel zu tun. Sie schrieb fleißig, manchmal sogar nachts. Die ersten drei Folgen ihres Kinderbuches waren fertiggestellt. Na ja, nach wiederholtem Lesen änderte sie immer wieder einige Passagen. Sie war ja auch ein Anfänger auf dem Gebiet, aber es machte ihr Spaß. Oft sprach sie mit Ralf über Texte, hörte sich sein Urteil an, durchdachte alles noch einmal und kam so zu einem neuen Ergebnis.
Mit ihren Kolleginnen und Kollegen traf sie sich im Eis-Cafe, um sich Neuigkeiten aus dem Betrieb anzuhören und von ihrer eigenen, gesuchten Tätigkeit als Kinderbuch Autorin zu berichten. Sie waren wieder das, was sie immer waren: nette Kollegen. Sie nahm keinem mehr etwas übel, ja, hatte sogar Verständnis, für ihr Verhalten. Die Kolleginnen verhielten sich aus Unwissenheit und Angst so. Wer wollte schon etwas zu tun haben, mit einer Person, die eine unerforschte Krankheit hatte. Jetzt konnte sie ihnen wieder unbelastet gegenübertreten, sie freute sich, sie zu treffen und mit ihnen zu reden. Und sie gestand sich ein, daß sie ohne die Trennung vom Betrieb, es nicht gewagt hätte, für sich eine neue Tür aufzustoßen. Sie war über ihre Entscheidung froh.
Am kommenden Wochenende planen Ralf und Ulli etwas besonders Aufregendes. Sie luden bereits beide ihre engsten Freunde mit Anhang, d. h. mit Kindern und Lebensgefährten zu einer Schiffstour ein.
Jeder trägt seine eigenen Kosten für Anfahrt und Überfahrt und nimmt noch Verpflegung für ein gemeinsames Picknick mit. Plätze an Bord des Schiffes hat Ulli schon reserviert. Der Garten des Insel-Ausflugslokals mit Spielgeräten, Fußball Platz und Grill Ecke sind auch schon angemietet. Nun muß nur noch das Wetter mitspielen und sie alle, die Teilnehmer, gute Laune mitbringen.
Ralf und Ulli haben als „Kinderersatz“ ihre lustigen Vier eingeladen. Das sind Bonni, Gyde, Tim und Henner. Tim ist sieben Jahre alt, ein kleiner Rotschopf mit vielen Sommersprossen. Ralf lernte Tim im Krankenhaus kennen, sie besuchten sich gegenseitig am Krankenbett, lasen sich gegenseitig aus ihren Büchern vor, vertrieben so die Langeweile im Krankenhaus. Leider verloren sie sich, nachdem beide das Krankenhaus verlassen hatten, aus den Augen. Vor gut sechs Wochen trafen sie sich zufällig im Kaufhaus und verabredeten sich gleich für das damals kommende Wochenende. Ulli fand die Idee gut. Sie lud Bonni und Gyde dazu ein.
Bonni und Gyde sind Schwestern. Ihre Eltern trennten sich. Bonni ist zwölf Jahre alt und lebt seit der Trennung ihrer Eltern bei ihren Großeltern, und das sind Ulli`s Nachbarn Mimi und Gerd. Ihre Schwester Gyde ist zehn Jahre alt und lebt in einem Behindertenheim. Sie hat schwarze Haare und große, dunkle, fragende Augen. Sie ist zierlich und schlank. Sie spricht nicht viel, und wenn sie spricht, so klingt es ziemlich unverständlich. Gyde beobachtet alles und freut sich über Dinge, die wir nicht wahrnehmen. Im Heim hat Gyde ihren Freund Henner gefunden. Henner ist groß und kräftig, immer etwas polternd, wenn er spricht. Er ist dreizehn Jahre alt. Ulli brachte es nicht übers Herz, ihn allein im Heim zurückzulassen, als sie Gyde abholte. Henners Blick war tieftraurig. Umso heller und froher wurde seine Mine, als Ulli sich die Erlaubnis der Heimleitung holte, Henner mitzunehmen. Ein kurzes Gespräch mit der Heimleitung – und Henner kam mit ihnen.
Das war damals ein Sonntag, wie sie ihn alle sechs noch nicht erlebt hatten. Sehr anstrengend, aber doch sehr, sehr lustig und harmonisch. Sie hatten beide, Ralf und Ulli und auch die vier Kinder sehr viel Neues erfahren, hatten voneinander gelernt. Und das war schön. Sie sahen sich mit neuen Augen.
Dieses Erlebnis wollen Ralf und Ulli auch anderen nahe bringen, weil es einfach schön war, so anders und überhaupt nicht langweilig. Sie empfanden es als eine Bereicherung ihres Lebens. Warum sollten nicht auch ihre Freunde so etwas erleben.
Dieser geplante Sonntag soll ein Sonntag für alle werden, für unsere alten Freunde, für unsere neuen Freunde, sagen sich Ulli und Ralf.
Sie drücken sich vertrauensvoll die Hand. Da schrillt das Telefon. „Hallo, hier ist Mimi. Wie geht es so? Kann ich als Oma mit Gerd als Opa auch an der Hallig Tour teilnehmen? Wir würden dann extra unseren Kaffeeklatsch am Sonntag mit unseren Oldies absagen. Es wäre doch mal etwas anderes für uns, nicht nur mit „Oldies“ etwas zu unternehmen. Außerdem: die Kinder haben von Eurem letzten Treffen so begeistern erzählt – wir möchten gerne am Sonntag dabei sein. Wir bringen die Kinder mit, ihr müßt sie nicht extra abholen.“
„Aber klar, kommt ihr mit. Dann sind wir 22 Teilnehmer. Das wird sicher für euch und uns ein riesiges Vergnügen. Dann bis Sonntag um 9.30 Uhr am Bootsableger.“
Ulli legt den Hörer aus der Hand. Sie hat ein gutes Gefühl. Sie werden eine gemischte Gruppe: kleine und große Persönlichkeiten, die zusammen etwas erleben, Spaß haben werden. Sie werden erstaunt sein, wie jeder durch seine Andersartigkeit zum Gelingen des Ausflugs beitragen wird.


Gisela Hess-Hatting
13.09.03/ 04.11.2004





Ich bin doch nicht dein Dackel

Heute saß Frau Meyer in der Reihe der wartenden Kurteilnehmer neben mir. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Dabei wurde der Behandlungsplan doch immer zeitgemäß abgewickelt, es gab keine langen Wartezeiten. Warum nur diese Unruhe? Noch etwas undeutlich gab Frau Meyer folgendes von sich: „Wo bleibt er denn nur, er kann doch gar nicht ohne mich losgegangen sein.“
Schnell war allen Anwesenden in der Wartereihe klar, dass die Dame ihren Gatten vermisste. „Er kann sich doch gar nicht alleine anziehen, ich muss ihm doch immer alles zurechtlegen. Nun ist er verschwunden. Im Schlafanzug wird er durch die Gänge irren! Meinen Zimmernachbarn, den netten Herrn, habe ich schon gebeten, meinen Mann zu suchen. Hoffentlich schafft er das, denn er ist ja noch klappriger als mein Mann!“ Da schaute auch schon ein älterer Herr schüchtern um die Ecke: “Beste Frau, ich kann ihren Gatten nicht finden.“ „Oh, vielen Dank für ihre Mühe, finden Sie denn nun allein zurück? Ich bringe sie lieber nach oben.“ Gesagt, getan – es war wieder Ruhe auf dem Gang eingekehrt. Die Gespräche plätscherten so dahin.
Aber nicht lange, da erschien die besorgte Frau Meyer wieder um auf ihrem Stuhl Platz zu nehmen. „ Ach, ich verstehe es nicht, mein Mann irrt immer noch im Schlafanzug hier im Haus herum. Sein Bett ist leer, kein Schlafanzug ist da. Er wird sich erkälten!“ Die anderen wartenden Kurteilnehmer versuchten beruhigend auf die Dame einzureden, aber sie setzte ihre klagende Litanei fort. „ Er verpasst ja seine Termine, das wäre ja ärgerlich, und gefrühstückt hat er auch noch nicht. Seine Tasse an unserem Frühstückstisch war noch unberührt. Und wenn er seine Kreislauftablette nicht nimmt, fällt er plötzlich um.“ Es hörte sich alles gefährlich an.

„Herr Meyer, bitte in den Raum drei zur Massage!“ Eine junge, adrette Arzthelferin rief diese Worte in den Gang hinein. Und Herr Meyer stand auf. Er hatte sechs Plätze weiter unten in der Reihe gesessen. Nur wenige Meter von seiner Ehefrau, der besorgten Frau Meyer, entfernt. „Was? Du bist schon hier? Wie hast Du denn das geschafft? Wie hast Du denn Deine Sachen gefunden und Dich so korrekt angezogen?“ Ziemlich erstaunt und sichtlich empört erklang die Stimme seiner Frau.

„Ach“, antwortete Herr Meyer, „ich weiß, das Du alle meine Sachen versteckst, damit ich sie nicht finde und ich dich um jede Kleinigkeit um Hilfe bitten soll – a b e r heute nicht. Wie Du siehst, bin ich gut angezogen, habe bereits in aller Ruhe gefrühstückt, es geht mir gut. Und, dass Du es nur weißt: Ich bin doch nicht Dein Dackel!!!!“ Bei diesen Worten richtete sich Herr Meyer zu seiner vollen Größe auf und schritt durch die offene Tür, an der lächelnden Arzthelferin vorbei, auf den Massagetisch zu.

Alle wartenden Kurteilnehmer in der langen Reihe blickten kurz auf, rutschten auf die Kante ihres Stuhles und klatschten kräftig in die Hände. Und es ertönte ein lautes, einstimmiges: „Bravo, Herr Meyer!“

Gisela Hess-Hatting
03.06.2009